Tagebuch

High Need-Babys

Unser Sohn war von Anfang an anders, als die wenigen Babys, die ich damals kannte. Er war gefühlt ständig unzufrieden! Er quengelte und motzte die meiste Zeit des Tages und das einzige was ihn dann halbwegs zufrieden stellte, war entweder an etwas zu Saugen oder Herumgetragen zu werden.

So verbrachte er die ersten Monate auf oder an mir. Ans Ablegen war keine Sekunde lang zu denken! Ich trug ihn stundenlang in den Schlaf, lernte, mit Baby im Arm zu Duschen, Zähne zu putzen, auf die Toilette zu gehen, zu Kochen, zu Essen und überhaupt alles mit nur einer Hand zu tun. Nach 4 Monaten hatte ich bereits eine Sehnenscheidenentzündung!

Schlafen war die grösste aller Herausforderungen! Er wollte eigentlich nie schlafen – obwohl er hundemüde war😔 Es dauerte jeweils Stunden (!) bis er sich endlich dem Schlaf hingeben konnte und wehe, man bewegte sich oder ihn danach noch! Dann riss er die Augen sofort wieder auf, schrie wie am Spiess und das ganze Spiel begann von Vorne… 😩 Überhaupt schien er mit viel weniger Schlaf auszukommen als ich überall gelesen hatte. Wickeln: ein Kampf um Leben und Tod! Ablegen: das K.O.-Kriterium Nr.1. Singen/Summen oder andere Musik: Geschrei! Streicheln: unerwünscht… Das „falsche“ Spielzeug, die falschen Hösli, die falsche Laufrichtung – alles war ein Grund für ihn, lauthals rumzuschreien! Es schien, als könne man es ihm mit NICHTS recht machen. Er war regelrecht frustriert darüber, dass man ihn überhaupt aus dem Mutterleib gepresst und auf diese Welt gebracht hatte! Nur die Mama war gut genug. Wenn überhaupt!

Und dann sein Schreien…! Dieses Schreien kann ich bis heute nicht vergessen. Hätte ich es nicht gesehen sondern nur gehört, wäre ich überzeugt gewesen, dass man diesem Baby gerade ein Bein abhackt!😭😱 Es war dieses Schreien wie am Spiess. Scheinbar aus dem Nichts! Kein anfängliches Quengeln, dass sich dann langsam steigerte. Nein! Gleich von Null auf Hundert. Aus voller Kraft, nach Luft schnappend und beinahe daran erstickend… So ohrenbetäubend und schrill, dass es mir als Mutter, egal wie nah er bei mir war, jedesmal Gänsehaut bereitete. Ich litt unendlich mit und jede Faser meines Körpers versetzte sich in Alarmbereitschaft. Alle seine Bedürfnisse mussten sofort und prompt erfüllt werden, denn sein Weinen war wirklich unerträglich und kaum auszuhalten! 😩

Wir probierten Pülverchen und Cremchen, Tee‘s, Säfte, Massagen und Osteopathie, Pucken, Schaukeln, Hopsen, Wiegen und was man sonst noch so alles für tolle Ratschläge von Eltern mit „anstrengenden Kindern“ bekommt. Nichts davon half! ER WAR EINFACH SCHEISSE DRAUF! Wenn ich andere Mamis mit ihren Anfängerbabys sah, wie sie ihre Kleinen in den Kinderwagen legten und diese nach wenigen Minuten friedlich einschlummerten, hätte ich Heulen können! Dieses ständige Gefühlschaos aus Versagensangst, Frustration und Neid, gepaart mit der andauernden Angst vor dem nächsten Ausbruch, brachte mich an den Rande der totalen Erschöpfung… Seine Gefühlsausbrüche waren sooo ansteckend! Ich konnte sie nicht ignorieren. Nicht, ohne selber durchzudrehen! Ich war einfach die Mutter, mit dem Kind, das verkehrt rum im Kinderwagen stand und motzte, weil es noch nicht Laufen konnte. Ich war die Mutter, die sich viel zu oft entschuldigen musste, weil mein Kleiner mal wieder viel zu impulsiv war und ich war die Mutter, die versucht hat die Haltung zu bewahren, beim Versuch, den feinen Zvieri in den Mund meines hungrigen Kindes zu bekommen, während alle anderen Babys brav vom Löffelchen assen… 

„Uuuh, der Kleine hat aber schon einen ganz schön starken Willen! Pass auf, dass du das in den Griff bekommst“

„Lass ihn doch mal einwenig Weinen, der wird ja schon richtig verwöhnt!“

„Leg ihn doch mal in den Kinderwagen, vielleicht schläft er dann ein?!“

„Schon klar, ist er so nervös/ängstlich/klammernd (…), wenn DU ständig so rumhyperst! Das überträgt sich auf ihn!“

„Du solltest endlich lernen, loszulassen! Sonst bessert sich sein Verhalten nie!“

Vielen Dank auch, darauf wäre ich im Leben nieeee gekommen!!🙄😤

Das sind alles Sätze, die ich mir als frischgebackene Mutter oft anhören musste und sie trafen mich mitten ins Herz. Manchmal musste ich mich danach zurückziehen um einfach nur zu Weinen… Ich war nicht nur müde und hormonüberflutet, sondern fühlte mich als die grösste Versagerin des gesamten Universums. WAS MACHE ICH BLOSS FALSCH? Hab ich mich wirklich so total selbst überschätzt mit der Annahme, ich könnte eine gute Mami sein?? Wieso schaff ich es nicht, mein Baby glücklich zu machen? Was ist bei mir schief gewickelt, dass ich das Schreien meines Babys so absolut überhaupt nicht ertragen kann? So wirklich gar nicht – keine halbe Sekunde lang?! 

Ich zweifelte an meinen Fähigkeiten als Mutter, an mir selbst und am schlimmsten noch; an der Glaubwürdigkeit meines eigenen Kindes!!

Der erste Wendepunkt kam nach ungefähr 6 Monaten. Bis dahin haben wir es immerhin geschafft, ihn nicht mer in den Schlaf tragen zu müssen, sondern ich konnte mich hinlegen, er natürlich auf mir. Ich lag also da, wie jede Nacht, mit meinem Baby auf der Brust im Bett, mit dem Wissen, dass ich so nun die nächsten Stunden verbringen werde und wartete geduldig, bis er die Kurve kriegte… Streicheln oder Halten waren Tabu! Nur das Stillkissen wurde als Stütze akzeptiert… Doch an jenem Abend strampelte er und wand sich solange, bis ich ihn leicht genervt auf die Matratze neben mir legte. Und boom: er schlief ein!😲 Was war denn das?? Ich konnte nicht glauben, was geschehen war! Das war das allererste Mal, dass er ohne Körperkontakt einschlief und weiterschlief!! Ein Meilenstein! Und der erste kleine Hoffnungsschimmer, auf einen halbwegs normalen Alltag… Von da an wollte er nur noch auf der Matratze einschlafen. Natürlich dicht neben mir. Doch bereits nach kurzer Zeit, konnte ich sogar den Abstand zwischen uns vergrössern, auch wenn ich nach wie vor sein Schöppeli halten musste🥰 Und ab da war für mich klar: ICH HABE DOCH NICHT ALLES FALSCH GEMACHT! Er brauchte ganz einfach länger als andere, um in dieser Welt anzukommen. Ich begann wieder, meinem Kind zu vertrauen. Darauf, dass er mir schon zeigt, was er braucht.

Als das erste Jahr vorbei war und wir langsam sowas wie eine Routine im Alltag fanden, bin ich zum ersten Mal auf den Begriff High-Need-Baby gestossen. Wieder so ein neues Wort, dachte ich zuerst. Doch als ich den Artikel mit den Anzeichen eines HN-Kindes durchlas, hatte ich eine Erleuchtung nach der Anderen! Am Ende war ich so berührt, dass ich heulen musste….. Endlich konnte mir jemand erklären, was mit meinem Kind los ist!! Endlich zeigte mir jemand auf, dass es nicht an mir liegt! Und endlich kann man es beim Namen nennen…. Ich war unglaublich erleichtert und fühlte mich zum ersten Mal seit ich Mami geworden bin, bestätigt!

Es ist zwar heikel, einem Kind damit quasi einen Stempel aufzudrücken. Aber meine Erfahrung hat gezeigt, dass sich gerade das Benennen, sehr heilsam anfühlt. Man kann das Verhalten und die eigenen Sorgen und Ängste einordnen! Und man kann lernen über gewissen Dingen zu stehen ohne ständig an den eigenen Fähigkeiten zu zweifeln.

Seit jenem Schlüsselerlebnis lasse ich mir null und nichts mehr sagen, was meinen Sohn betrifft. Ich mache auf Durchzug und habe mir ein paar nette Floskeln zurecht gelegt, die ich jederzeit einsetzen kann🤷🏻‍♀️☺️ Und zuletzt hat mich unser zweites Kind vollkommen „geheilt“, denn er ist einfach das komplette Gegenteil vom Grossen. Er zeigte mir, was ich bisher nur vom Hörensagen kannte. Diese kuschelig-knuddelige, Rosa-Wölckchen-Zeit mit einem neugeborenen Baby💖 Auch sein Weinen berührte mich, aber der Adrenalinschub fehlte dabei😄

Unser Sohn wurde zwar mit zunehmender Autonomie zufriedener. Aber noch heute prägt sein Verhalten unseren Alltag.
Er springt wie ein Flummiball von einer Beschäftigung zur Nächsten. Es gibt Tage, da bin ich regelrecht nur damit beschäftigt, hinter ihm herzuspringen, sauber zu machen und aufzupassen, dass er oder andere dabei nicht zu Schaden kommen. Diese Rastlosigkeit, diese Getriebenheit, dieser ständige Drang alles zu erforschen und danach trotzdem völlig Reizüberflutet zu sein🙈 Dieser wirklich andauernde Entdeckungsdrang macht mich noch heute fertig. Ich kann noch so entspannt sein; nach 30 Sekunden mit meinem Sohn, bin ich bereits wieder angesteckt von seiner unbändigen Energie! Uuuund seine Gefühle gehen tieeeeef. Grösste Angst, tiefste Trauer, höchste Freude, niedrigste Frustrationstoleranz. Seine Gefühlsausbrüche sind nach wie vor kleine Vulkane. Sie dauern lange, wirken teilweise schon fast gekünstelt und er lässt sich dann kaum beruhigen. Das einzige was wirklich immer hilft, ist, Verständnis zu zeigen und mit ihm zusammen die Situation zu akzeptieren versuchen. Er will einfach nur gehört und ernst genommen werden in dem grossen Spektrum seiner Emotionen…

Wenn auch du beim Lesen dieser Zeilen eine Offenbarung nach der anderen erlebt hast und vermutlich sogar mit den Tränen zu kämpfen hattest, dann hast du mit grösster Wahrscheinlichkeit auch ein HN-Kind. Wenn das so ist, dann möchte ich dir gleich folgendes sagen:

Du bist nicht allein! Du hast nichts falsch gemacht und es liegt nicht an dir!! Deine Gefühle und deine Wahrnehmung trügen nicht, du kannst und sollst dich voll und ganz darauf einlassen und ihnen Glauben schenken. Es wird besser! Zwar in Mini-Steps aber es wird besser, versprochen! Lass dir nicht Reinreden von Anderen. Jeder noch so gut gemeinte Ratschlag von jemandem, der nicht selbst betroffen ist, kann dich verunsichern. Es ist einfach unmöglich für Aussenstehende, nachzuvollziehen, welche emotionale Achterbahnfahrt man mit einem „HN-chen“ durchlebt. Lass dir ein dickes Fell wachsen und hör nur auf dein Mutterinstinkt! Das wird das einzige sein in nächster Zeit, worauf du dich wirklich verlassen kannst… 

Unsere einzigartigen Kinder haben eine grandiose Zukunft vor sich, davon bin ich überzeugt! Sie werden ihr Leben selbstbestimmt und unabhängig führen können und ganz sicher niemals allein sein😃 Sie werden grossartige Dinge in Bewegung setzen und für alles kämpfen und einstehen, was ihnen lieb und teuer ist! Das macht mich stolz. Ich bin sooo so stolz auf dich und du bist perfekt, so wie du bist, mein kleiner, grosser Wirbelwind!💞😍 Deine Mama

Wenn du dich in dem Text wiedererkannt hast, dann kann ich dir folgende Facebook-Gruppe sehr ans Herz 
legen:

https://www.facebook.com/groups/749257171819870/?ref=share

Sowie das Buch von Nora Imlau „So viel Freude, so viel Wut“ wärmstens empfehlen. Dabei geht es um sogenannte gefühlsstarke Kinder und wie man sie besser verstehen kann💞

Und zu guter Letzt findest du im Beitrag vom Elternmagazin eine wirklich gute Beschreibung eines High-Need-Babys sowie die 12 erarbeiteten Kriterien von Dr. William Sears, dem Begründer des HN und übrigens auch des Attachement-Parenting! Auch für „Aussenstehende“ äusserst interessant zu Lesen! Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen 😉

Hier der Link dazu:

https://www.eltern.de/high-need-babys-was-ist-das?

Vielleicht hast du eine Freundin oder Bekannte, die über eine ähnliche Situation klagt…? Dann mach sie doch auf diesen Artikel aufmerksam, du wirst ihr damit einen riesigen Gefallen tun!!🙏🏼❤️

Deine Rebekka✌🏼

2 Comments

  • Jeannette Wick

    Liebe Rebekka, ich kann nur eines sagen zu deinem Blog GROSSARTIG !

    Endlich mal was aus dem wahren Leben und nicht das versüsste, unwirkliche Gesäusel aus einer Traumfabrik.
    Herrlich zu lesen und sich auch als Mutter von erwachsenen Kindern teilweise wieder zu finden.
    Dein Grosser wird seinen Weg mit Sicherheit machen, denn das Blatt wird sich wenden im frühen Teenager Alter. Du wirst aus dem Staunen und vor lauter Stolz die Welt nicht mehr verstehen. Bis dahin wirst du mit Sicherheit einige Male zu aussergewöhnlichen Zeiten zum Elterngespräch gebeten, doch diese sind sowieso überbewertet in meinen Augen. Bleib auf deinem Weg und lass dich nicht zur Ruhe raus bringen.

    Freue mich auf weitere Folgen.
    liebe Grüsse Jeannette

    • Rebekka

      Liebe Jeannette! Wow, ganz, ganz herzlichen Dank für deine motivierenden Worte!!
      Schön, dass die Authentizität rüberkommt… Das ist mir sehr wichtig.

      Nach deiner kleinen «Vorschau» auf die Teenager-Zeit, bin ich noch aufgeregter… Hehe.
      Bin unglaublich gespannt, was aus meinen Jungs mal wird und wie sie sich machen werden! <3

      An dieser Stelle noch "Happy Mothersday" und einen schönen Start in die neue Woche 🙂
      Herzlich, Rebekka

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